Zur Ausstellung
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migratory aesthetics and counter-public spheres in the gdr
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Kuratiert von Elisa R. Linn
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Mit Beiträgen von u. a.:Jürgen Wittdorf, Clara Mosch, Núria Quevedo, Mahmoud Dabdoub, Gabriele Stötzer, Raja Lubinetzki, Materialien aus dem Archiv GrauZone, Rosa von Praunheim, Bärbel Bohley, Ulrich Polster, Annemirl Bauer eingeladen von Sandra Teitge, César Olhagaray, Ronald M. Schernikau, Künstlerinnengruppe Erfurt, Geraldo Paunde, De-Zentralbild, Jayne-Ann Igel, Jürgen Baldiga, Ladies Neid, Namenlos, Sarah Schulman
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Konzeption der Ausstellungsarchitektur von Lennart Wolff
Abbildungen
Text
Bleib jeder Grenzüberschritt
ist dieses nachvollzogene Ritual
Einer Abnabelung[1]
„Die (Berliner) Mauer war das Kondom der DDR“, stellte die Deutsche AIDS-Hilfe 1990 fest und griff damit eine in der DDR bereits geläufige Metapher auf. Der sogenannte „Antifaschistische Schutzwall“ sollte nicht nur äußere Einflüsse des „westlichen Klassenfeindes“ abwehren und Flucht verhindern, sondern auch nach innen gegen vermeintlich „ansteckende“ Einflüsse abschirmen. Doch die Metapher vom „Kondom“ war letztlich irreführend: Die Mauer war zugleich militarisierte Grenze und „halb durchlässige Membran“ – porös nicht nur gegenüber Aids, sondern auch gegenüber Grenzgänger:innen, ihren Identitäten und Denkweisen, die Zwischenräume für alternative (Gegen-)Öffentlichkeiten schufen.
Die Ausstellung untersucht die Auswirkungen von Grenzen auf die Entstehung von Gegenöffentlichkeiten an der Schnittstelle von Kunst, Literatur und Aktivismus – in der DDR sowie in den Umbruchmomenten des Mauerfalls und der Zeit nach der Wiedervereinigung. Sie umfasst künstlerische Arbeiten, lyrische Texte, archivarische Materialien und eine Bibliothek „von unten”. Wie entwickelten Schaffende ein „Grenzdenken” (Gloria Anzaldúa und Walter Mignolo), ein Denken an und über die Grenze zwischen Ideologien, Sprachen, Identitäten, normativen Vorstellungen von Körper, Sexualität und staatsbürgerlicher Zugehörigkeit? Und wie verhalf ihnen dieses Denken, sich den Architekturen staatlicher Repräsentation und Subjektivierung sowie der „Schere im Kopf”, einer inneren Selbstzensur, zu entziehen?
Die Beiträge dieser Ausstellung machen die Grenze – sei sie physisch gebaut, ideologisch, körperpolitisch, kulturell oder medial – sichtbar, überschreiten und besetzen sie als diasporischen Ort der Artikulation. Jene ästhetischen Strategien im öffentlichen, semi-öffentlichen oder im intimsten privaten Raum unterlaufen mitunter ikonografische Identitätsbilder, wie sie im sozialistischen Realismus durch den staatlich propagierten „neuen Menschen“ verkörpert wurden. Andere verschreiben sich der Suche nach dem befreienden Wort in lyrischen und erzählerischen Texten, geprägt von sprachlicher Doppelbödigkeit, die das Metamorphieren und „Minoritär-Werden” gegen die Verstummung produktiv machen. Manche Künstler:innen nutzen den autonomen künstlerischen Umgang mit neuen Medien für eine „intermediäre Grenzüberschreitung“ mit (Schmal-)Filmexperimenten im Schattenraum des Legalen oder verschreiben sich performativ-aktionistischen und fotografischen Experimenten mit dem Körper als politischem Raum. Andere wiederum entgegnen den kolonial geprägten, entsubjektivierenden Fremdzuschreibungen mit Eigensinn und subjektiven künstlerischen Ausdrucksformen – fernab des offiziellen Alltags als Vertragsarbeiter:innen im Bruderland.
Die in der Ausstellung versammelten Beiträge verhandeln zwischen Autonomie und dem Eingeschlossensein im verdichteten Raum, zwischen Abstoßung und sexuellem Begehren, zwischen Gemeinschaftsformen des Miteinanders und Erfahrungen der Vereinzelung und des Exils. Sie geben dabei einen Anstoß, das Transzendieren und Migrieren von einem Ort, einer Identität, einem Geschlecht zum anderen nicht nur als Ausnahmezustand, Moment der Entfremdung oder potenzielle Bedrohung zu verstehen. Vielmehr regen sie dazu an, die Grenze zu entkräften, sie neu anzueignen und sie zugunsten ihrer Liminalität und jenseits territorialer und kategorialer Denkweisen zu verorten. Fernab des Versuchs einer linearen, umfassenden Überblickserzählung befragt die Ausstellung das ästhetische Potenzial der unterschiedlichen Beiträge aus dem subjektiven Blickwinkel einer Nachwendegeneration: als nonkonforme Praktiken, die alternative künstlerische Lebens-, Handlungs- und demokratische Gemeinschaftsformen entwarfen und damit bisweilen auch die Angleichung an die Normen und Eigentumsverhältnisse einer patriarchal geprägten kapitalistischen Gesellschaft Westdeutschlands anzweifeln. Welche Potenziale haben diese Praktiken heute, in einer Zeit, in der Nativismus und Abschottung mehr und mehr die Realpolitik eines „starken“ vereinten Deutschlands untermauern?
[1] Lubinetzki, Raja (2019): Der barfußne Tag. Gedichte. Berlin: Distillery Verlag, S. 4.
Programm
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Eröffnung
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Screeningkuratiert von Elisa R. Linn und Jenni Tischer
Universität für angewandte Kunst Wien, Vordere Zollamtsstraße 7, 4. Stock, 1030 Wien
Ein zweites, von Elisa R. Linn kuratiertes Kapitel mit dem Titel Border Thinking and Striking the Border: Migratory Aesthetics and Counter-Public Spheres in the GDR ist Teil des Projekts On the Origins of the 21st Century or The Fall of Communism as Seen in Gay Pornography, das vom 13. September 2025 bis zum 11. Januar 2026 im Kunstverein in Hamburg gezeigt wird.